Für Prostituierte und Drogensüchtige ist die Krise noch nicht ausgestanden
Auf dem Strichplatz Zürich wird seit Freitag wieder käuflicher Sex angeboten – und Junkies kehren in Einrichtungen in der Innenstadt zurück
Auf dem Strichplatz zwischen den SBB-Gleisen und der Autobahn herrscht ab sofort wieder Normalbetrieb. In den Abend- und Nachtstunden fügen sich Autos mit Freiern am Steuer in die Rundstrecke vor den sogenannten Sexboxen ein. Dort lassen sich die Männer von Sexarbeiterinnen gegen Bezahlung bedienen.
Der Strichplatz in Zürich Altstetten war während des Lockdowns für die Prostitution geschlossen. Stattdessen wurde er rund zwei Monate lang anderweitig genutzt. Die Stadt hatte ab Mitte März eine provisorische Kontakt- und Anlaufstelle für Drogenabhängige eingerichtet. Die Verhältnisse in den bestehenden Einrichtungen in der Innenstadt waren damals zu eng für die Umsetzung der Richtlinien des Bundesamts für Gesundheit (BAG).
Verbot zwingt in die Illegalität
Im Zuge der Corona-Lockerungen ist das Sexgewerbe nun unter Berücksichtigung der Vorgaben des BAG wieder erlaubt – auch auf dem Strichplatz. «Wir sind erleichtert, dass die Sexworkerinnen wieder legal arbeiten können», sagt Ursula Kocher, die Leiterin von Flora Dora. Das Team betreut die Prostituierten auf dem Strichplatz während der Öffnungszeiten in einem Pavillon. «Das Verbot der Prostitution hat unsere Klientinnen faktisch in die Illegalität gezwungen. Die Nachfrage war in kleinerem Umfang weiterhin da. Gewisse Sexarbeiterinnen hätten ohne ihr Einkommen nicht überleben können.»
Die Frauen, die auf dem Strichplatz sexuelle Dienstleistungen anbieten, gehören aus Sicht des Sozialdepartementes zu den verletzlichsten Gruppen in der Stadt Zürich. Ursula Kocher sagt, häufig seien sie sehr jung, um 25 Jahre alt, und viele kämen aus Ungarn, Bulgarien oder Rumänien. Von ihrem Einkommen sind manchmal ganze Familienclans abhängig; häufig haben die Frauen eigene Kinder zu Hause. Viele Prostituierte, auch aus anderen Ländern, sind vor der Grenzschliessung wegen der Corona-Pandemie in ihre Heimat zurückgekehrt. Doch das Gewerbe in Zürich lief trotz gesperrtem Strichplatz an anderen einschlägig bekannten Orten wie dem Langstrassenquartier reduziert weiter.
Abstand halten, aber wie?
Das BAG empfiehlt besondere Schutzmassnahmen für «Dienstleistungen mit Körperkontakt», wie sie auf dem Strichplatz angeboten werden. Das Team von Flora Dora versucht, den betroffenen Frauen diese Verhaltensregeln so gut wie möglich zu vermitteln. Sie werden nicht nur aufgefordert, ihre Hände oft zu waschen und zu desinfizieren, sondern auch, im Kontakt mit Freiern eine Gesichtsmaske zu tragen und die Maske nicht abzulegen. Küsse oder sexuelle Praktiken wie Oralverkehr sind damit ausgeschlossen.
«Über diese Themen werden wir mit den Sexworkerinnen in den nächsten Tagen und Wochen ins Gespräch kommen», sagt Kocher. «Grundsätzlich haben die Frauen ein grosses Interesse daran, gesund zu bleiben. Ihre Gesundheit ist ihr Kapital.» Die Leiterin von Flora Dora hält aber auch fest, dass die Realität mitunter anders aussieht. «Je grösser der Druck der Frauen ist, Geld zu verdienen, desto mehr sind sie bereit, sich auf riskante Praktiken einzulassen.» Das gilt freilich nicht nur in Bezug auf das Coronavirus, sondern auch im Zusammenhang mit Aids oder anderen sexuell übertragbaren Krankheiten. «In der Illegalität des Lockdowns waren sie ausgelieferter, weil sie etwas Verbotenes taten.»
Notfälle im Ambulatorium
Eine Anlaufstelle für die Sexarbeiterinnen während der Corona-Krise war das städtische Ambulatorium an der Kanonengasse im Kreis 4, das medizinische Grundversorgung und eine gynäkologische Sprechstunde anbietet. Die Walk-in-Praxis für Randständige bietet auch die Möglichkeit, sich anonym behandeln zu lassen. In der Zeit des Lockdowns wurden zwar auch hier wie in anderen Arztpraxen nur noch Notfälle angenommen, wie die ärztliche Leiterin der gynäkologischen Sprechstunde, Silvia Arnold, ausführt.
Als Notfälle oder dringliche Fälle gelten im Ambulatorium zum Beispiel Abstriche zum Nachweis von Geschlechtskrankheiten nach ungeschützten Sexualkontakten, Schwangerschaftstests oder die Abgabe der «Pille danach». Dazu zählen freilich auch Konsultationen beim Auftreten von starken Bauchschmerzen oder ungewohnten Blutungen. Wegen der Corona-Pandemie wurden viele nicht dringende Beratungen telefonisch durchgeführt. Bei fremdsprachigen Patientinnen gab es dann und wann Verständigungsprobleme, die zu lösen Zeit in Anspruch nahm.
«Die Zahl der Konsultationen brach zwar stark ein. Doch das Bedürfnis sozial randständiger Frauen nach einem Ort, wo sie in einem Notfall medizinische Unterstützung erhalten, war in der Krise offensichtlich», sagt Arnold. Viele der Patientinnen verfügen über keine Krankenkasse. Nicht alle sind in der Lage, die sechzig Franken Selbstbehalt pro ärztliche Konsultation zu bezahlen. Dann wird mit den sozialen Diensten eine Lösung gesucht. In Notfällen übernimmt die öffentliche Hand während einer Übergangszeit die Behandlungskosten.
Gefährliche Abhängigkeiten
Bei rund drei Viertel der Patientinnen in der gynäkologischen Sprechstunde handelt es sich laut der Gynäkologin um Sexarbeiterinnen. Sie treffen an der Kanonengasse auf freundliche, grosszügige Räumlichkeiten, in denen sie von einem Team von medizinischen und sozialen Fachfrauen empfangen werden. Das Ambulatorium ist für sie ein geschützter Ort, an dem sie als Menschen wahrgenommen werden. «Wir waren in dieser Zeit aufmerksamer hinsichtlich allfälliger Abhängigkeitsverhältnisse im Gespräch mit unseren Patientinnen», sagt die Ärztin Silvia Arnold. Auch sie unterstreicht, die Frauen seien in einer Krise noch viel stärker gefährdet, sich gesundheitlichen Risiken auszusetzen oder von Freiern unter Druck gesetzt zu werden.
Milena Stoffel ist die Teamleiterin Pflege im Ambulatorium Kanonengasse. Von einer Arbeitskollegin, die für die gynäkologische Sprechstunde in der Gassenarbeit tätig ist, hat sie von konkreten Fällen gefährlicher Abhängigkeiten gehört. «Da taucht beispielsweise eine Art Mäzen auf, der sich zuerst als guter Freund ausgibt und dann sexuelle Dienstleistungen verlangt», erzählt sie. «Oder eine vermeintlich grosszügige Freundin bietet einer Frau eine Unterkunft an und verlangt eines Tages plötzlich Geld dafür.» Silvia Arnold berichtet aber auch von positiven Beispielen wie spontanen Geldspenden an Frauen, die nicht an Erwartungen geknüpft sind.
Im Ambulatorium sind die vom BAG empfohlenen Schutzmassnahmen ebenfalls ein Thema. Die Sexarbeiterinnen werden aufgefordert, auf dem Gebrauch von Kondomen zu bestehen, stets Gesichtsmasken zu tragen und den Verkehr abzubrechen, wenn sie merken, dass ein Freier unter Krankheitssymptomen wie Husten leidet. «Auch das kann wiederum zu schwierigen Diskussionen mit den Kunden führen und wird voraussichtlich noch eine Weile so bleiben», gibt Arnold zu bedenken. «Solche Situationen sind zuweilen heikel, da die Frauen ganz allein auf sich gestellt sind und sich je nachdem gegen den Willen des Freiers durchsetzen müssen.»
Anlaufstellen erweitert
Das Ambulatorium an der Kanonengasse ist eine Schnittstelle bei der Betreuung von randständigen Bewohnerinnen und Bewohnern der Stadt Zürich. Hier gehen auch Drogenabhängige ein und aus, die zum Teil seit der Platzspitz-Zeit in der Szene verkehren. Zu ihrem Alltag gehört zudem der regelmässige Aufenthalt in den städtischen Kontakt- und Anlaufstellen (K&A), die aus den früheren Fixerräumen hervorgegangen sind. In den K&A konsumieren sie ihre Drogen unter medizinischer Aufsicht und unter hygienischen Bedingungen.
Von den drei K&A bei der Kaserne, beim ehemaligen Unterwerk Selnau und im Aussenquartier Oerlikon sind seit dem 25. Mai zwei wieder geöffnet. Die beiden Einrichtungen in der Innenstadt konnten durch zusätzliche provisorische Bauten im Aussenraum sowie kleinere Umbauten angepasst werden. Florian Meyer, der Leiter der K&A, sagt: «Wir können die Schutzbestimmungen des BAG nun auch in diesen beiden Einrichtungen einhalten.» Bei der Kaserne etwa habe man eine 150 Quadratmeter grosse, beheizbare Zelthalle im Aussenraum aufgestellt. Die nutzbare Fläche habe sich dadurch verdoppelt. «Es stehen nun mehr Konsumplätze zur Verfügung als vorher, obschon wir die Abstände einhalten müssen», sagt Meyer. Die Bewilligungen für die Anpassungen seien an die Corona-Massnahmen gekoppelt und vorerst befristet.
Trotz diesen ungewöhnlichen Umständen, die viel Flexibilität verlangten, hätten die Teams der K&A auch positive Erfahrungen gesammelt. «In den vergangenen drei Monaten gab es keinen einzigen nennenswerten Gewaltvorfall», erklärt Florian Meyer. «Wir schliessen daraus, dass ein grosszügigeres Raumangebot auf die Klienten deeskalierend wirkt. Eine bleibende Erweiterung der Räumlichkeiten wird daher ein Thema bleiben.»
Noch einsamer als sonst
Unter den Besucherinnen und Besuchern der K&A hat man seit dem Lockdown zwei Corona-Krankheitsfälle registriert. Beide betroffenen Personen hatten einen leichten Verlauf und sind wieder gesund. Keinen einzigen bestätigten positiven Fall gab es im Ambulatorium Crossline an der Badenerstrasse, einer der städtischen Abgabestellen für Heroin, Methadon und andere Medikamente. Hier beziehen zum Teil auch die Besucher der K&A ihre Dosis, die sie in der Regel ein- oder mehrmals täglich direkt im Ambulatorium konsumieren. Die sogenannte Substitutionsbehandlung hat zum Ziel, die gesundheitliche und soziale Situation der Süchtigen zu stabilisieren. Zum Angebot bei Crossline gehört neben der medizinischen Unterstützung auch eine umfassende Sozialberatung.
«Im Rahmen der Corona-Krise haben wir begonnen, gewissen Klienten den Heroin-Ersatz Diaphin für bis zu sieben Tage mitzugeben, um Kontakte zu reduzieren, indem sie nicht so häufig vorbeikommen mussten», erklären Nathalie Devaud, Oberärztin, und Sandra Späni, Teamleiterin Sozialarbeit bei Crossline.
Die Bedingungen dafür orientieren sich an klaren Richtlinien des BAG; die Ausnahmebewilligung ist vorerst bis im Herbst befristet. «Für die erweiterte Diaphin-Mitgabe kommen nur Abhängige infrage, die wir sehr gut kennen, die sehr stabil sind und sich nicht in der Szene bewegen», sagt Devaud. Damit will man verhindern, dass die Medikamente auf dem Schwarzmarkt landen. «Um einen Nebenkonsum auszuschliessen, müssen die Klienten Urinproben abgeben.»
Sandra Späni ergänzt, den Patientinnen und Patienten hätten in den zurückliegenden Wochen Tagesstrukturen wie durch die Stadt organisierte Beschäftigungsmöglichkeiten gefehlt. Manche dieser Angebote waren wegen des Virus vorübergehend eingestellt worden. «Viele Abhängige fühlten sich während der Krise sehr einsam. Noch einsamer als sonst.» Mit der schrittweisen Lockerung hat sich wenigstens das etwas gebessert.
Aus dem NZZ-E-Paper vom 23.06.2020