Seit zweieinhalb Jahren gilt in Zürich ein neues Prostitutionsgesetz. Die Linke hält die Regeln für zu streng und will sie lockern.
An der Langstrasse herrscht eine doppelte Daueranarchie: Velofahrer benutzen die Busspur. Und Prostituierte lehnen an den Hauswänden. Beides ist verboten. Doch beides gehört zum Alltag im Kreis 4 seit unzähligen Jahren, trotz regelmässiger Polizeikontrollen.
Eine Velospur hat der Gemeinderat schon 2007 beschlossen. Nur die Umsetzung verzögert sich weiterhin.
Nun möchte die SP auch die Rotlichtregeln der Wirklichkeit anpassen und Teile der Langstrasse sowie einige Seitenstrassen zur legalen Strichzone erklären. «Die jetzige Situation macht wenig Sinn», sagt SP-Gemeinderätin Simone Brander, die das Postulat mit ihrer Parteikollegin Marianne Aubert eingereicht hat. «Die Langstrasse ist ein traditionelles Rotlichtviertel.»
Die Forderung ist ein Teil der Debatte, die der Gemeinderat heute Abend über die Prostitutionsgewerbeverordnung (PGVO) führen wird. Diese Verordnung trat 2013 in Kraft und regelt das Rotlichtmilieu von Salonbewilligungen bis zum Strassenstrich. Der Stadtrat wertet sie als Erfolg. Linke Politiker und Organisationen, die Prostituierte vertreten, halten sie für zu restriktiv.
Weniger zugereiste Prostituierte
Dank den neuen Massnahmen habe Zürich an Anziehungskraft für «Prostituierte aus EU-Oststaaten und für Freier aus einem weiten geografischen Umkreis» eingebüsst, schreibt der Stadtrat in seinem Fazit. Das bestätigt die Statistik: Seit 2013 nimmt die Anzahl der zugereisten Prostituierten ab. Das Milieu habe sich auf einem «stadt- und quartierverträglichen Niveau» eingepegelt, findet der Stadtrat. Dabei meint er vor allem das Niederdorf und das Sihlquai. Den Strassenstrich an der Sihl hat die Stadt geräumt und auf den Strichplatz in Altstetten verlegt. Im Niederdorf dürfen die Frauen nur noch von 22 bis 2 Uhr anschaffen. An beiden Orten müssen sie für ihre Arbeit jeden Abend ein Ticket für fünf Franken lösen.
Strenger gemacht hat der Stadtrat auch die Genehmigungen für Sexsalons. Neu brauchen diese zwei Bewilligungen: eine für die Prostitution und eine Baubewilligung. Eine solche erhalten Bordelle nur in Stadtteilen, in denen der Wohnanteil unter 50 Prozent liegt. Weil dies in den Rotlichtgegenden des Niederdorfs und des Kreis 4 fast nirgends zutrifft, gelten dort fast alle Bordelle als illegal ausser sie haben vor 1999 eröffnet. Diese 50-Prozent-Regel besteht schon länger, nur kann sie die Stadt in Kombination mit der neuen Salonbewilligung systematischer durchsetzen. Die Praxis wirkt. Seit 2008 hat sich die Anzahl der Stadtzürcher Sexsalons mehr als halbiert, von 302 auf 138 Ende 2015. Bisher hat die Stadt 52 Salonbewilligungen erteilt. 13 Gesuche haben die Betreiber wieder zurückgezogen, zwei lehnte die Stadt ab. 13 Gesuche befinden sich in Bearbeitung.
Mehr Polizeikontrollen
Aus Sicht der Kritikerinnen leiden vor allem die Prostituierten unter den neuen Regeln. Seit der Schliessung des Sihlquais setze die Polizei im Langstrassenquartier Prostituierten mit Kontrollen, Wegweisungen, Bussen und Bewilligungsentzügen zu. Weil die Frauen nicht mehr im öffentlichen Raum arbeiten dürfen, müssten sie sich ständig vor der Polizei fürchten. Durch diese «Kriminalisierung» bleibe ihnen weniger Zeit, um mit Freiern zu verhandeln. Dies erschwere es, Gefahren einzuschätzen. Die gezielte Schliessung von Salons im Kreis 4 verschlimmere die Situation.
Dass die Stadtpolizei mit der Durchsetzung der neuen Regeln Ernst macht, zeigen die Zahlen. 2013 verzeigte sie 899 Prostituierte und 241 Freier, meist dafür, dass sie am falschen Ort anbandelten. Die Zahlen sind seither nur leicht zurückgegangen. 2015 büsste die Polizei 754 Prostituierte und 80 Freier.
Laut den Kritikern erreicht der behördliche Druck das Gegenteil davon, was die PGVO ursprünglich anstrebte: den besseren Schutz der Frauen. «Besonders im Kreis 4 ist die Situation für die Sexworkerinnen schwierig. Einige haben sich verschuldet, weil sie ständig Bussen bekommen», sagt Beatrice Bänninger, Leiterin der Stadtmission.
Linke gegen Ticketautomaten
Neben der Forderung nach einem legalen Strassenstrich im Kreis 4 versuchen die Linken mit weiteren Vorstössen die aus ihrer Sicht negativen Wirkungen der Prostitutionsgewerbeverordnung abzudämpfen. Christina Schiller (AL) und Alan David Sangines (SP) wollen die Fünf-Franken-Gebühr am Strassenstrich aufheben. Die Massnahme schaffe viel Bürokratie, nütze aber wenig. Der Stadtrat hält die Ticketautomaten dagegen für eine taugliche Methode, Gebühren für die Nutzung des öffentlichen Raums einzutreiben.
SP, Grüne und AL fordern ausserdem, die Kategorie der «Kleinstsalons» grosszügiger anzuwenden. Solche Etablissements, in denen höchstens zwei Frauen selbstständig arbeiten, brauchen gemäss PGVO keine Salonbewilligung. Die Stadt soll diese Erleichterung auch in Häusern gewähren, in denen mehrere Prostituierte in mehreren Zimmern arbeiten dies aber auf eigene Rechnung und unabhängig voneinander.
Die AL möchte auch die 50-Prozent-Regel abschwächen. Im Langstrassenquartier und im Niederdorf sollen Kleinstsalons wieder erlaubt sein. Über diesen Punkt wird allerdings erst in der nächsten Debatte zur Bau- und Zonenordnung diskutiert.
Abschaffung hat keine Chance
Eine «pragmatischere» Umsetzung der Verordnung, die bestehende Kleinsalons schützt, hat im Rat breite Sympathien, auch unter den Bürgerlichen. Die Ausweitung des Strassenstrichs auf die Langstrasse dürfte es hingegen schwerer haben. Dafür sind SP, Grünliberale und AL. Die Grünen lehnen die Forderung ab. FDP und SVP haben ihre Positionen noch nicht endgültig bezogen. Beide loben aber die beruhigende Wirkung der PGVO auf betroffene Quartiere.
Chancenlos bleiben wird ein Antrag der AL: Die Partei will gleich die ganze Verordnung wieder abschaffen.
Quelle: http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/...story/11605271
An der Langstrasse herrscht eine doppelte Daueranarchie: Velofahrer benutzen die Busspur. Und Prostituierte lehnen an den Hauswänden. Beides ist verboten. Doch beides gehört zum Alltag im Kreis 4 seit unzähligen Jahren, trotz regelmässiger Polizeikontrollen.
Eine Velospur hat der Gemeinderat schon 2007 beschlossen. Nur die Umsetzung verzögert sich weiterhin.
Nun möchte die SP auch die Rotlichtregeln der Wirklichkeit anpassen und Teile der Langstrasse sowie einige Seitenstrassen zur legalen Strichzone erklären. «Die jetzige Situation macht wenig Sinn», sagt SP-Gemeinderätin Simone Brander, die das Postulat mit ihrer Parteikollegin Marianne Aubert eingereicht hat. «Die Langstrasse ist ein traditionelles Rotlichtviertel.»
Die Forderung ist ein Teil der Debatte, die der Gemeinderat heute Abend über die Prostitutionsgewerbeverordnung (PGVO) führen wird. Diese Verordnung trat 2013 in Kraft und regelt das Rotlichtmilieu von Salonbewilligungen bis zum Strassenstrich. Der Stadtrat wertet sie als Erfolg. Linke Politiker und Organisationen, die Prostituierte vertreten, halten sie für zu restriktiv.
Weniger zugereiste Prostituierte
Dank den neuen Massnahmen habe Zürich an Anziehungskraft für «Prostituierte aus EU-Oststaaten und für Freier aus einem weiten geografischen Umkreis» eingebüsst, schreibt der Stadtrat in seinem Fazit. Das bestätigt die Statistik: Seit 2013 nimmt die Anzahl der zugereisten Prostituierten ab. Das Milieu habe sich auf einem «stadt- und quartierverträglichen Niveau» eingepegelt, findet der Stadtrat. Dabei meint er vor allem das Niederdorf und das Sihlquai. Den Strassenstrich an der Sihl hat die Stadt geräumt und auf den Strichplatz in Altstetten verlegt. Im Niederdorf dürfen die Frauen nur noch von 22 bis 2 Uhr anschaffen. An beiden Orten müssen sie für ihre Arbeit jeden Abend ein Ticket für fünf Franken lösen.
Strenger gemacht hat der Stadtrat auch die Genehmigungen für Sexsalons. Neu brauchen diese zwei Bewilligungen: eine für die Prostitution und eine Baubewilligung. Eine solche erhalten Bordelle nur in Stadtteilen, in denen der Wohnanteil unter 50 Prozent liegt. Weil dies in den Rotlichtgegenden des Niederdorfs und des Kreis 4 fast nirgends zutrifft, gelten dort fast alle Bordelle als illegal ausser sie haben vor 1999 eröffnet. Diese 50-Prozent-Regel besteht schon länger, nur kann sie die Stadt in Kombination mit der neuen Salonbewilligung systematischer durchsetzen. Die Praxis wirkt. Seit 2008 hat sich die Anzahl der Stadtzürcher Sexsalons mehr als halbiert, von 302 auf 138 Ende 2015. Bisher hat die Stadt 52 Salonbewilligungen erteilt. 13 Gesuche haben die Betreiber wieder zurückgezogen, zwei lehnte die Stadt ab. 13 Gesuche befinden sich in Bearbeitung.
Mehr Polizeikontrollen
Aus Sicht der Kritikerinnen leiden vor allem die Prostituierten unter den neuen Regeln. Seit der Schliessung des Sihlquais setze die Polizei im Langstrassenquartier Prostituierten mit Kontrollen, Wegweisungen, Bussen und Bewilligungsentzügen zu. Weil die Frauen nicht mehr im öffentlichen Raum arbeiten dürfen, müssten sie sich ständig vor der Polizei fürchten. Durch diese «Kriminalisierung» bleibe ihnen weniger Zeit, um mit Freiern zu verhandeln. Dies erschwere es, Gefahren einzuschätzen. Die gezielte Schliessung von Salons im Kreis 4 verschlimmere die Situation.
Dass die Stadtpolizei mit der Durchsetzung der neuen Regeln Ernst macht, zeigen die Zahlen. 2013 verzeigte sie 899 Prostituierte und 241 Freier, meist dafür, dass sie am falschen Ort anbandelten. Die Zahlen sind seither nur leicht zurückgegangen. 2015 büsste die Polizei 754 Prostituierte und 80 Freier.
Laut den Kritikern erreicht der behördliche Druck das Gegenteil davon, was die PGVO ursprünglich anstrebte: den besseren Schutz der Frauen. «Besonders im Kreis 4 ist die Situation für die Sexworkerinnen schwierig. Einige haben sich verschuldet, weil sie ständig Bussen bekommen», sagt Beatrice Bänninger, Leiterin der Stadtmission.
Linke gegen Ticketautomaten
Neben der Forderung nach einem legalen Strassenstrich im Kreis 4 versuchen die Linken mit weiteren Vorstössen die aus ihrer Sicht negativen Wirkungen der Prostitutionsgewerbeverordnung abzudämpfen. Christina Schiller (AL) und Alan David Sangines (SP) wollen die Fünf-Franken-Gebühr am Strassenstrich aufheben. Die Massnahme schaffe viel Bürokratie, nütze aber wenig. Der Stadtrat hält die Ticketautomaten dagegen für eine taugliche Methode, Gebühren für die Nutzung des öffentlichen Raums einzutreiben.
SP, Grüne und AL fordern ausserdem, die Kategorie der «Kleinstsalons» grosszügiger anzuwenden. Solche Etablissements, in denen höchstens zwei Frauen selbstständig arbeiten, brauchen gemäss PGVO keine Salonbewilligung. Die Stadt soll diese Erleichterung auch in Häusern gewähren, in denen mehrere Prostituierte in mehreren Zimmern arbeiten dies aber auf eigene Rechnung und unabhängig voneinander.
Die AL möchte auch die 50-Prozent-Regel abschwächen. Im Langstrassenquartier und im Niederdorf sollen Kleinstsalons wieder erlaubt sein. Über diesen Punkt wird allerdings erst in der nächsten Debatte zur Bau- und Zonenordnung diskutiert.
Abschaffung hat keine Chance
Eine «pragmatischere» Umsetzung der Verordnung, die bestehende Kleinsalons schützt, hat im Rat breite Sympathien, auch unter den Bürgerlichen. Die Ausweitung des Strassenstrichs auf die Langstrasse dürfte es hingegen schwerer haben. Dafür sind SP, Grünliberale und AL. Die Grünen lehnen die Forderung ab. FDP und SVP haben ihre Positionen noch nicht endgültig bezogen. Beide loben aber die beruhigende Wirkung der PGVO auf betroffene Quartiere.
Chancenlos bleiben wird ein Antrag der AL: Die Partei will gleich die ganze Verordnung wieder abschaffen.
Quelle: http://www.tagesanzeiger.ch/zuerich/...story/11605271