Blick in die Presse: Tages-Anzeiger on-line
Sie verteilte Thailänderinnen an Bordelle
Die 60-jährige P. P. schleuste für bis zu 30'000 Franken Frauen zur Prostitution in die Schweiz. Bis man ihr auf die Schliche kam.
Simone Rau
«Es war, als hätte ich meine Freiheit verloren.»
«Meine Gebärmutter macht das nicht mehr mit.»
«Man darf nicht krank werden oder ausgehen. Man darf auch nicht sterben. Es ist das Schlimmste, was ich je erlebt habe.»
Mit diesen Worten beschreiben thai*ländische Prostituierte ihre Arbeit in Deutschschweizer Bordellen. Sie wohnten meist in den Zimmern, in denen sie auch anschafften. Privatsphäre gab es keine, wenn sie das Bordell verlassen wollten, mussten sie um Erlaubnis *fragen. Bei Polizeikontrollen mussten sie sich sofort verstecken, 24 Stunden am Tag für die Kunden in Bereitschaft sein. Sieben Tage die Woche.
Alles begann mit einem Reisebüro
In die Schweiz gebracht wurden die Frauen und Transmenschen von einer Landsfrau: der Thailänderin P. P. von allen nur Mam genannt. Sie hatte mit gefälschten Papieren bei europäischen Botschaften in Bangkok Touristenvisa für den Schengenraum organisiert. Auch die Reise in die Schweiz finanzierte sie. Als Gegenleistung verlangte sie bis zu 30'000 Franken Geld, das die aus armen Verhältnissen stammenden Opfer nur mit Prostitution abarbeiten konnten, die Schulden waren horrend. So *zumindest steht es in der 57-seitigen Anklageschrift.
P. P. selbst stammt aus einer thailändischen Mittelschichtsfamilie. Prostituiert hat sie sich nie. Sie studierte Politik, arbeitete auf einer Bank und in der Industrie. Bekam zwei Kinder. Eröffnete ein kleines Reisebüro, verkaufte Flugtickets, füllte Formulare für Visa aus. So fing alles an.
Es endete im Oktober 2014 mit ihrer Verhaftung am Flughafen Zürich. Operiert hatte sie von Thailand aus, wo sie stets auch wohnte, doch das Geld trieb sie bei den Prostituierten meist persönlich ein, irgendwann schnappte die Falle zu. Seit Oktober 2016 befindet sich P. P. im Frauengefängnis Hindelbank im vorzeitigen Strafvollzug.
«Number one in Switzerland»
Im Juli 2018 verurteilte das Regional*gericht Berner Jura-Seeland die Thailänderin unter anderem wegen Menschenhandels in 75 Fällen und Förderung der Prostitution in 29 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zehneinhalb Jahren. Das Verdikt des Gerichtspräsidenten: «Das Ausmass der sexuellen Ausbeutung ist ausserordentlich.»
Das Regionalgericht sah es als erwiesen an, dass die heute 60-Jährige in der Menschenhandelskette eine viel dominantere Rolle innehatte, als sie dies seit ihrer Verhaftung je eingestanden hat. «Sie war die Organisation oder zumindest eine der Organisationen in Thailand. Vielleicht ist sie gar die Number one in Thailand», sagte der Gerichtspräsident. «Wenn nicht, dann ist sie sicher die Number one in Switzerland.» Was nun zu Prozessen in der halben Deutschschweiz führt.
Zuerst aber, bereits kommende Woche, steht Mam vor dem Berner Ober*gericht. Sie hat Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil von Juli 2018 eingelegt. Dasselbe hat auch Staatsanwältin Annatina Schultz getan, die mehrere Jahre ermittelte und den Gerichtsprozess gegen P. P. so erst ermöglichte. Auch ein ehemaliger Schweizer *Polizeiattaché in Bangkok war an der Aufklärung des Falls beteiligt: Er erkannte die Vorgehensweise mit den erschlichenen Visa offenbar als Erster.
Verfahren löst mehr als ein Dutzend weitere aus
Das laufende Verfahren gegen die Thailänderin, das wird nächste Woche noch einmal klar werden, ist in mehrerer Hinsicht aussergewöhnlich. Da ist zum einen die Zahl der Opfer. Da ist zum anderen der Aufwand, den die Ermittlungsbehörden betreiben mussten Einvernahmen, diverse Rechtshilfeersuchen nach Thailand. Vermutlich zum ersten Mal ist es gelungen, in der Schweiz eine thailändische Drahtzieherin eines Menschenhändlerrings dingfest zu machen. Aussergewöhnlich ist das Berner Verfahren schliesslich auch, weil es mehr als ein Dutzend weitere Verfahren *auslöste.
P. P. beliess es nämlich nicht bei der Organisation und Finanzierung der *Reisen. Laut Anklage vermittelte sie die thailändischen Frauen und Transmenschen an mindestens elf Bordelle in sechs Kantonen: Basel-Stadt, Bern, Luzern, Solothurn, St. Gallen und Zürich. Auch ihre Abnehmerinnen profitierten vom ausgeklügelten System und wurden in der Folge ebenfalls angeklagt oder gar bereits verurteilt.
«Ich fühlte mich ausgeliefert und hilflos.»Opfer von P.P.
Zum Beispiel Basel-Stadt: Voraussichtlich am 10. März vier Tage nach dem Urteil des Berner Obergerichts im Fall P. P. fällt das kantonale Strafgericht sein Urteil im Fall zweier Schweizerinnen thailändischer Abstammung. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, Teil einer in Thailand und der Schweiz tätigen Verbrecherorganisation zu sein. Die 66-jährige Inhaberin eines Bordells im Kleinbasler Rotlichtviertel soll Prostituierte von Mam übernommen haben entweder direkt oder aber durch eine Mitbeschuldigte, ihre heute 64-jährige Stellvertreterin. In der Anklage erscheint P. P.s Name mehrfach, auch wenn sie nicht Partei in diesem Verfahren ist.
Achteinhalb Tage lang hat das baselstädtische Strafgericht den Fall im *Januar behandelt. Opfer schilderten, wie sie jahrelang gezwungen waren, sämtliche Wünsche ihrer Freier jederzeit zu erfüllen. Auch ungeschützt. P. P. wurde als Zeugin befragt viereinhalb Stunden lang. Sie belastete die Beschuldigten, welche die Vorwürfe in den wesentlichen Punkten bestreiten, schwer. Es drohen Freiheitsstrafen von siebeneinhalb Jahren sowie vier Jahren und drei Monaten.
Weitere Verfahren sind hängig
Drei weitere Strafverfahren gegen *Bordellbetreiberinnen sind bei der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt derweil sistiert. In den meisten grösseren Deutschschweizer Kantonen gibt oder gab es Verfahren, in denen Mam eine Rolle spielte.
Zum Beispiel Luzern: In einem Fall verurteilte das Kriminalgericht Luzern eine Bordellbetreiberin im November 2018 wegen mehrfacher Förderung der Prostitution und mehrfacher Widerhandlung gegen das Ausländergesetz zu einer bedingten Geldstrafe. Ein weiteres Verfahren ist hängig.
Zum Beispiel Zürich: Ebenfalls im November 2018 verurteilte das Bezirksgericht Zürich eine thailändische Massagesalonbesitzerin unter anderem wegen Menschenhandels und Förderung der Prostitution zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten sowie einer Geldstrafe.
Zum Beispiel Solothurn: Hier hat die Staatsanwaltschaft seit 2015 Strafverfahren gegen 19 Beschuldigte eröffnet, 18 davon sind Frauen, die Bordelle in und um Solothurn betrieben. Neun der Beschuldigten sind in der Zwischenzeit vornehmlich wegen Menschenhandels und/oder Förderung der Prostitution sowie wegen Widerhandlungen gegen das Ausländergesetz rechtskräftig zu Freiheitsstrafen bis zu vier Jahren verurteilt worden. Die Thailänderinnen unter ihnen mussten die Schweiz in der Folge verlassen. Weitere sechs Verfahren sind hängig.
Zwei Bordellbetreiberinnen hätten Frauen und Transmenschen direkt von Mam bezogen, sagt der Leitende Staatsanwalt Jan Gutzwiller bei einem Gespräch in Solothurn. Andere Beschuldigte hätten sie von Bordellbetreiberinnen in der Schweiz übernommen, die die Prostituierten zum Teil ihrerseits zuvor bei Mam bezogen hätten. Das zeigt: P. P. hatte ihre Hände mutmasslich vielerorts im Spiel, wenn auch nicht überall. Nicht alle Solothurner Verfahren haben einen Zusammenhang mit ihr. Es gebe neben Mam noch andere Drahtzieherinnen und Drahtzieher ähnlicher Organisationen, sagt Gutzwiller.
Die 19 Beschuldigten entschieden sich in Absprache mit ihren Anwälten praktisch alle für abgekürzte Verfahren. «Das hat für sie den Vorteil, dass die Strafen milder ausfallen als bei ordentlichen Verfahren», sagt der Staatsanwalt. Auch für die Opfer würden die Vorteile überwiegen. Zwar müssten sie tendenziell tiefere Strafen für die Täterinnen akzeptieren. Doch im Gegenzug *entfalle bei abgekürzten Verfahren ihr eigener Gang vor Gericht, wo sie noch einmal aussagen müssten. «Man darf den Druck eines Prozesses nicht unterschätzen», sagt Gutzwiller. «Es ist ein neuer Ort, es sind neue Leute, die Betroffenen müssen noch einmal erzählen, was sie erlebt haben. Das kann retraumatisierend sein. Auch ist der Ausgang der Gerichtsverhandlung völlig ungewiss.»
Die meisten Opfer schweigen
Wie viel Kraft es für Opfer von Menschenhandel braucht, vor Gericht auszusagen, zeigte sich beim erstinstanzli*chen Prozess gegen P. P. im Juli 2018. Die Anklageschrift listete 88 mutmassliche Opfer auf. Nur neun hatten sich im Vorfeld bereit erklärt, sich am Strafverfahren zu beteiligen. Effektiv vor Gericht erschienen dann drei Personen mit Kapuzenjacken, Hüten, Sonnenbrillen und Mundschutz getarnt, um auf dem Weg in den Verhandlungssaal nicht erkannt zu werden.
Die meisten Opfer von Menschenhandel sagen nicht aus, sondern schweigen. Aus Angst, sich oder die Familie zu *gefährden. Und weil es viel Kraft und Mut braucht, den Strafverfolgungsbehörden zu erzählen, was man erlebt hat, immer wieder, in allen Einzelheiten. «Meine Klientinnen mussten zum Teil bis zu zwölfmal aussagen. Das ist nur schwer auszuhalten», sagt Lina Rasheed von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration FIZ, die im Fall P. P. mehrere Opfer beraten hat. Eine Rolle spiele auch die Angst vor Beamten.
Vertrauen ist das A und O
In Solothurn führt die Staats*anwaltschaft aus diesem Grund sämtliche Opferbefragungen durch sogar die *allerersten Einvernahmen, die normalerweise die Polizei machen würde. «Das ist im Vergleich zu anderen Kantonen ziemlich einzigartig und bewährt sich sehr», sagt Samuel Grieder, Fachverantwortlicher Rotlicht und internationale Polizeikooperation bei der Kantonspolizei Solothurn.
Opfer von Menschenhandel würden Polizisten wie ihn als «angsteinflössend» erleben. Indem die Staatsanwaltschaft Betroffene von Beginn weg begleite, könnten sie Vertrauen aufbauen. «Das ist im Bereich Menschenhandel das A und O», sagt Grieder. «Wir wollen die Leute nicht von einer Person zur anderen weiterreichen. Die Umstände sind schlimm genug.» Als Unterstützung ist bei den Einvernahmen in der Regel auch eine Begleitperson der FIZ dabei.
Während die Staatsanwaltschaft sich auf die Opfer konzentriert, sind Samuel Grieder und seine Leute in Solothurn für die Täterbefragungen verantwortlich. Für die umfangreichen Ermittlungen im Bereich Menschenhandel stellte die Kantonspolizei im August 2015 sogar eine Sonderkommission zusammen. Bis 2017 führte diese knapp 20 Hausdurchsuchungen im Solothurner Rotlichtmilieu durch.
«Regelrechte Müllhalden»
«Die Situationen, die wir vorfanden, *waren oft menschenunwürdig», sagt *Ermittler Grieder. «Dunkel, dreckig, unhygienisch. Zum Teil hausten die Prostituierten in regelrechten Müllhalden, und dort empfingen sie auch ihre Freier.» Bereits vor den Razzien habe man um die gefälschten Visa gewusst: «Die Prostituierten durften also gar nicht in der Schweiz sein, geschweige denn arbeiten. Sie haben sich unter dem Schrank und im Estrich versteckt oder sind gar aus dem Fenster in den Innenhof gesprungen.»
Die Aussagen von Opfern sind für eine Verurteilung im Bereich Menschenhandel entscheidend auch weil es, im Gegensatz etwa zum Drogenhandel, kaum handfeste Beweise gibt. Wie also bringen Ermittler mögliche Opfer zum Reden? Wie viel Druck setzen Staats*anwälte auf? «Gar keinen», sagt Jan *Gutzwiller. «Wenn jemand nach der *Bedenkzeit nicht mit uns reden will, ist es so. Wenn jemand doch nicht kooperiert, ist es so. Wir können nur transparent aufzeigen, was die Chancen und *Risiken einer Aussage sind und damit Vertrauen schaffen.»
Auf Nachfrage ergänzt der Solothurner Staatsanwalt, dass Absagen nicht immer einfach zu akzeptieren sind: «Klar tut es mir als Staatsanwalt weh, wenn sich Opfer von Menschenhandel gegen eine Aussage entscheiden. Aber da können wir nichts machen. Die Selbstbestimmung ist gerade in diesem Bereich enorm wichtig.»
Schwere Traumata erlitten
Opfern von Menschenhandel steht das Recht auf eine Erholungs- und Bedenkzeit von mindestens 30 Tagen zu. Sind sie danach zur Zusammenarbeit mit den Behörden bereit, kann für die Dauer des Strafverfahrens und nicht länger eine Kurzaufenthaltsbewilligung erteilt werden. Härtefallgesuche sind unabhängig von einer Aussage möglich. Doch Opferberatungsstellen wie die FIZ kriti*sieren, dass Kantone diese sehr unterschiedlich handhaben. Sie fordern, dass allen Menschenhandelsopfern Schutz und, damit verknüpft, eine Aufenthaltsbewilligung gewährt wird.
Im Fall von P. P. habe die sexuelle *Ausbeutung bei fast allen Betroffenen zu einem schweren physischen und psychischen Trauma geführt, sagt Opferberaterin Lina Rasheed. Vor dem Regionalgericht in Biel erzählten auch die Anwältinnen der Opfer von Panikattacken, Schlafstörungen und Albträumen, von Hautausschlägen, Drogensucht, Suizidgedanken oder sogar Suizidversuchen ihrer Mandantinnen. Es gebe Betroffene, die sich in der Hoffnung auf ein neues Leben Gesichtsoperationen unterzogen hätten. Die Angst vor Repressalien und die Scham seien riesig.
Laut Staatsanwältin Annatina Schultz war zwar einem Teil der Frauen und Transmenschen bewusst, wie sie in der Schweiz ihr Geld verdienen würden. Und dass sie Schulden abzuarbeiten hatten. Nicht informiert waren sie hingegen über die konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen. Das führte den Gerichtspräsidenten im Juli 2018 zur Aussage: «In solch ein menschenverachtendes und ausbeuterisches System kann man gar nicht aus freien Stücken *einwilligen.»
«Nicht alle Schicksale sind gleich.»Verteidiger Philipp Kunz
Eine Alternative zur Prostitution gab es für die Betroffenen laut Anklage nicht. Sie lebten in völliger Isolation und Abhängigkeit, ohne Sprach- und Ortskenntnisse. Der in der thailändischen Kultur tief verankerte Respekt vor *älteren Personen trug zusätzlich zum Gehorsam bei. Auch war die Kontrolle engmaschig: War P. P. zu Hause in Thailand, fragte sie regelmässig per Chat nach.
Verteidiger Philipp Kunz bestritt an der Hauptverhandlung nicht, dass seine Mandantin die desolate wirtschaftliche Lage der Prostituierten ausgenutzt habe. «Die Schicksale gehen einem nahe», sagte er. «Doch nicht alle Schicksale sind gleich.» Unter den vermeintlichen Opfern seien auch solche, die sich freiwillig prostituiert hätten.
Den Straftatbestand des Menschenhandels sah Kunz nur in 13 Fällen gegeben. Diese Fälle werden nächste Woche nicht mehr neu beurteilt, P. P. hat sie *akzeptiert, sie sind inzwischen rechtskräftig geworden. «Das zeigt, dass meine Mandantin teilweise einsichtig ist», sagt Kunz. «Die Geschehnisse sind ja eigentlich unumstritten. Die Fragen sind vielmehr: War es wirklich Menschenhandel? Und wie hoch soll sie dafür bestraft werden?»
P. P. selbst sagte in ihrem Schlusswort, sie empfinde Bedauern für die Fehler, die sie gemacht habe. Das Regionalgericht Berner Jura-Seeland nahm ihr die Reue nicht ab. Sie habe das Ausmass und die Intensität der sexuellen Ausbeutung nie eingestanden, geschweige denn bereut, sagte der Präsident. Jetzt muss das Berner Obergericht über den Fall beraten. Das Urteil erfolgt voraussichtlich am 6. März
Sie verteilte Thailänderinnen an Bordelle
Die 60-jährige P. P. schleuste für bis zu 30'000 Franken Frauen zur Prostitution in die Schweiz. Bis man ihr auf die Schliche kam.
Simone Rau
«Es war, als hätte ich meine Freiheit verloren.»
«Meine Gebärmutter macht das nicht mehr mit.»
«Man darf nicht krank werden oder ausgehen. Man darf auch nicht sterben. Es ist das Schlimmste, was ich je erlebt habe.»
Mit diesen Worten beschreiben thai*ländische Prostituierte ihre Arbeit in Deutschschweizer Bordellen. Sie wohnten meist in den Zimmern, in denen sie auch anschafften. Privatsphäre gab es keine, wenn sie das Bordell verlassen wollten, mussten sie um Erlaubnis *fragen. Bei Polizeikontrollen mussten sie sich sofort verstecken, 24 Stunden am Tag für die Kunden in Bereitschaft sein. Sieben Tage die Woche.
Alles begann mit einem Reisebüro
In die Schweiz gebracht wurden die Frauen und Transmenschen von einer Landsfrau: der Thailänderin P. P. von allen nur Mam genannt. Sie hatte mit gefälschten Papieren bei europäischen Botschaften in Bangkok Touristenvisa für den Schengenraum organisiert. Auch die Reise in die Schweiz finanzierte sie. Als Gegenleistung verlangte sie bis zu 30'000 Franken Geld, das die aus armen Verhältnissen stammenden Opfer nur mit Prostitution abarbeiten konnten, die Schulden waren horrend. So *zumindest steht es in der 57-seitigen Anklageschrift.
P. P. selbst stammt aus einer thailändischen Mittelschichtsfamilie. Prostituiert hat sie sich nie. Sie studierte Politik, arbeitete auf einer Bank und in der Industrie. Bekam zwei Kinder. Eröffnete ein kleines Reisebüro, verkaufte Flugtickets, füllte Formulare für Visa aus. So fing alles an.
Es endete im Oktober 2014 mit ihrer Verhaftung am Flughafen Zürich. Operiert hatte sie von Thailand aus, wo sie stets auch wohnte, doch das Geld trieb sie bei den Prostituierten meist persönlich ein, irgendwann schnappte die Falle zu. Seit Oktober 2016 befindet sich P. P. im Frauengefängnis Hindelbank im vorzeitigen Strafvollzug.
«Number one in Switzerland»
Im Juli 2018 verurteilte das Regional*gericht Berner Jura-Seeland die Thailänderin unter anderem wegen Menschenhandels in 75 Fällen und Förderung der Prostitution in 29 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von zehneinhalb Jahren. Das Verdikt des Gerichtspräsidenten: «Das Ausmass der sexuellen Ausbeutung ist ausserordentlich.»
Das Regionalgericht sah es als erwiesen an, dass die heute 60-Jährige in der Menschenhandelskette eine viel dominantere Rolle innehatte, als sie dies seit ihrer Verhaftung je eingestanden hat. «Sie war die Organisation oder zumindest eine der Organisationen in Thailand. Vielleicht ist sie gar die Number one in Thailand», sagte der Gerichtspräsident. «Wenn nicht, dann ist sie sicher die Number one in Switzerland.» Was nun zu Prozessen in der halben Deutschschweiz führt.
Zuerst aber, bereits kommende Woche, steht Mam vor dem Berner Ober*gericht. Sie hat Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil von Juli 2018 eingelegt. Dasselbe hat auch Staatsanwältin Annatina Schultz getan, die mehrere Jahre ermittelte und den Gerichtsprozess gegen P. P. so erst ermöglichte. Auch ein ehemaliger Schweizer *Polizeiattaché in Bangkok war an der Aufklärung des Falls beteiligt: Er erkannte die Vorgehensweise mit den erschlichenen Visa offenbar als Erster.
Verfahren löst mehr als ein Dutzend weitere aus
Das laufende Verfahren gegen die Thailänderin, das wird nächste Woche noch einmal klar werden, ist in mehrerer Hinsicht aussergewöhnlich. Da ist zum einen die Zahl der Opfer. Da ist zum anderen der Aufwand, den die Ermittlungsbehörden betreiben mussten Einvernahmen, diverse Rechtshilfeersuchen nach Thailand. Vermutlich zum ersten Mal ist es gelungen, in der Schweiz eine thailändische Drahtzieherin eines Menschenhändlerrings dingfest zu machen. Aussergewöhnlich ist das Berner Verfahren schliesslich auch, weil es mehr als ein Dutzend weitere Verfahren *auslöste.
P. P. beliess es nämlich nicht bei der Organisation und Finanzierung der *Reisen. Laut Anklage vermittelte sie die thailändischen Frauen und Transmenschen an mindestens elf Bordelle in sechs Kantonen: Basel-Stadt, Bern, Luzern, Solothurn, St. Gallen und Zürich. Auch ihre Abnehmerinnen profitierten vom ausgeklügelten System und wurden in der Folge ebenfalls angeklagt oder gar bereits verurteilt.
«Ich fühlte mich ausgeliefert und hilflos.»Opfer von P.P.
Zum Beispiel Basel-Stadt: Voraussichtlich am 10. März vier Tage nach dem Urteil des Berner Obergerichts im Fall P. P. fällt das kantonale Strafgericht sein Urteil im Fall zweier Schweizerinnen thailändischer Abstammung. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, Teil einer in Thailand und der Schweiz tätigen Verbrecherorganisation zu sein. Die 66-jährige Inhaberin eines Bordells im Kleinbasler Rotlichtviertel soll Prostituierte von Mam übernommen haben entweder direkt oder aber durch eine Mitbeschuldigte, ihre heute 64-jährige Stellvertreterin. In der Anklage erscheint P. P.s Name mehrfach, auch wenn sie nicht Partei in diesem Verfahren ist.
Achteinhalb Tage lang hat das baselstädtische Strafgericht den Fall im *Januar behandelt. Opfer schilderten, wie sie jahrelang gezwungen waren, sämtliche Wünsche ihrer Freier jederzeit zu erfüllen. Auch ungeschützt. P. P. wurde als Zeugin befragt viereinhalb Stunden lang. Sie belastete die Beschuldigten, welche die Vorwürfe in den wesentlichen Punkten bestreiten, schwer. Es drohen Freiheitsstrafen von siebeneinhalb Jahren sowie vier Jahren und drei Monaten.
Weitere Verfahren sind hängig
Drei weitere Strafverfahren gegen *Bordellbetreiberinnen sind bei der Staatsanwaltschaft Basel-Stadt derweil sistiert. In den meisten grösseren Deutschschweizer Kantonen gibt oder gab es Verfahren, in denen Mam eine Rolle spielte.
Zum Beispiel Luzern: In einem Fall verurteilte das Kriminalgericht Luzern eine Bordellbetreiberin im November 2018 wegen mehrfacher Förderung der Prostitution und mehrfacher Widerhandlung gegen das Ausländergesetz zu einer bedingten Geldstrafe. Ein weiteres Verfahren ist hängig.
Zum Beispiel Zürich: Ebenfalls im November 2018 verurteilte das Bezirksgericht Zürich eine thailändische Massagesalonbesitzerin unter anderem wegen Menschenhandels und Förderung der Prostitution zu einer bedingten Freiheitsstrafe von 18 Monaten sowie einer Geldstrafe.
Zum Beispiel Solothurn: Hier hat die Staatsanwaltschaft seit 2015 Strafverfahren gegen 19 Beschuldigte eröffnet, 18 davon sind Frauen, die Bordelle in und um Solothurn betrieben. Neun der Beschuldigten sind in der Zwischenzeit vornehmlich wegen Menschenhandels und/oder Förderung der Prostitution sowie wegen Widerhandlungen gegen das Ausländergesetz rechtskräftig zu Freiheitsstrafen bis zu vier Jahren verurteilt worden. Die Thailänderinnen unter ihnen mussten die Schweiz in der Folge verlassen. Weitere sechs Verfahren sind hängig.
Zwei Bordellbetreiberinnen hätten Frauen und Transmenschen direkt von Mam bezogen, sagt der Leitende Staatsanwalt Jan Gutzwiller bei einem Gespräch in Solothurn. Andere Beschuldigte hätten sie von Bordellbetreiberinnen in der Schweiz übernommen, die die Prostituierten zum Teil ihrerseits zuvor bei Mam bezogen hätten. Das zeigt: P. P. hatte ihre Hände mutmasslich vielerorts im Spiel, wenn auch nicht überall. Nicht alle Solothurner Verfahren haben einen Zusammenhang mit ihr. Es gebe neben Mam noch andere Drahtzieherinnen und Drahtzieher ähnlicher Organisationen, sagt Gutzwiller.
Die 19 Beschuldigten entschieden sich in Absprache mit ihren Anwälten praktisch alle für abgekürzte Verfahren. «Das hat für sie den Vorteil, dass die Strafen milder ausfallen als bei ordentlichen Verfahren», sagt der Staatsanwalt. Auch für die Opfer würden die Vorteile überwiegen. Zwar müssten sie tendenziell tiefere Strafen für die Täterinnen akzeptieren. Doch im Gegenzug *entfalle bei abgekürzten Verfahren ihr eigener Gang vor Gericht, wo sie noch einmal aussagen müssten. «Man darf den Druck eines Prozesses nicht unterschätzen», sagt Gutzwiller. «Es ist ein neuer Ort, es sind neue Leute, die Betroffenen müssen noch einmal erzählen, was sie erlebt haben. Das kann retraumatisierend sein. Auch ist der Ausgang der Gerichtsverhandlung völlig ungewiss.»
Die meisten Opfer schweigen
Wie viel Kraft es für Opfer von Menschenhandel braucht, vor Gericht auszusagen, zeigte sich beim erstinstanzli*chen Prozess gegen P. P. im Juli 2018. Die Anklageschrift listete 88 mutmassliche Opfer auf. Nur neun hatten sich im Vorfeld bereit erklärt, sich am Strafverfahren zu beteiligen. Effektiv vor Gericht erschienen dann drei Personen mit Kapuzenjacken, Hüten, Sonnenbrillen und Mundschutz getarnt, um auf dem Weg in den Verhandlungssaal nicht erkannt zu werden.
Die meisten Opfer von Menschenhandel sagen nicht aus, sondern schweigen. Aus Angst, sich oder die Familie zu *gefährden. Und weil es viel Kraft und Mut braucht, den Strafverfolgungsbehörden zu erzählen, was man erlebt hat, immer wieder, in allen Einzelheiten. «Meine Klientinnen mussten zum Teil bis zu zwölfmal aussagen. Das ist nur schwer auszuhalten», sagt Lina Rasheed von der Fachstelle Frauenhandel und Frauenmigration FIZ, die im Fall P. P. mehrere Opfer beraten hat. Eine Rolle spiele auch die Angst vor Beamten.
Vertrauen ist das A und O
In Solothurn führt die Staats*anwaltschaft aus diesem Grund sämtliche Opferbefragungen durch sogar die *allerersten Einvernahmen, die normalerweise die Polizei machen würde. «Das ist im Vergleich zu anderen Kantonen ziemlich einzigartig und bewährt sich sehr», sagt Samuel Grieder, Fachverantwortlicher Rotlicht und internationale Polizeikooperation bei der Kantonspolizei Solothurn.
Opfer von Menschenhandel würden Polizisten wie ihn als «angsteinflössend» erleben. Indem die Staatsanwaltschaft Betroffene von Beginn weg begleite, könnten sie Vertrauen aufbauen. «Das ist im Bereich Menschenhandel das A und O», sagt Grieder. «Wir wollen die Leute nicht von einer Person zur anderen weiterreichen. Die Umstände sind schlimm genug.» Als Unterstützung ist bei den Einvernahmen in der Regel auch eine Begleitperson der FIZ dabei.
Während die Staatsanwaltschaft sich auf die Opfer konzentriert, sind Samuel Grieder und seine Leute in Solothurn für die Täterbefragungen verantwortlich. Für die umfangreichen Ermittlungen im Bereich Menschenhandel stellte die Kantonspolizei im August 2015 sogar eine Sonderkommission zusammen. Bis 2017 führte diese knapp 20 Hausdurchsuchungen im Solothurner Rotlichtmilieu durch.
«Regelrechte Müllhalden»
«Die Situationen, die wir vorfanden, *waren oft menschenunwürdig», sagt *Ermittler Grieder. «Dunkel, dreckig, unhygienisch. Zum Teil hausten die Prostituierten in regelrechten Müllhalden, und dort empfingen sie auch ihre Freier.» Bereits vor den Razzien habe man um die gefälschten Visa gewusst: «Die Prostituierten durften also gar nicht in der Schweiz sein, geschweige denn arbeiten. Sie haben sich unter dem Schrank und im Estrich versteckt oder sind gar aus dem Fenster in den Innenhof gesprungen.»
Die Aussagen von Opfern sind für eine Verurteilung im Bereich Menschenhandel entscheidend auch weil es, im Gegensatz etwa zum Drogenhandel, kaum handfeste Beweise gibt. Wie also bringen Ermittler mögliche Opfer zum Reden? Wie viel Druck setzen Staats*anwälte auf? «Gar keinen», sagt Jan *Gutzwiller. «Wenn jemand nach der *Bedenkzeit nicht mit uns reden will, ist es so. Wenn jemand doch nicht kooperiert, ist es so. Wir können nur transparent aufzeigen, was die Chancen und *Risiken einer Aussage sind und damit Vertrauen schaffen.»
Auf Nachfrage ergänzt der Solothurner Staatsanwalt, dass Absagen nicht immer einfach zu akzeptieren sind: «Klar tut es mir als Staatsanwalt weh, wenn sich Opfer von Menschenhandel gegen eine Aussage entscheiden. Aber da können wir nichts machen. Die Selbstbestimmung ist gerade in diesem Bereich enorm wichtig.»
Schwere Traumata erlitten
Opfern von Menschenhandel steht das Recht auf eine Erholungs- und Bedenkzeit von mindestens 30 Tagen zu. Sind sie danach zur Zusammenarbeit mit den Behörden bereit, kann für die Dauer des Strafverfahrens und nicht länger eine Kurzaufenthaltsbewilligung erteilt werden. Härtefallgesuche sind unabhängig von einer Aussage möglich. Doch Opferberatungsstellen wie die FIZ kriti*sieren, dass Kantone diese sehr unterschiedlich handhaben. Sie fordern, dass allen Menschenhandelsopfern Schutz und, damit verknüpft, eine Aufenthaltsbewilligung gewährt wird.
Im Fall von P. P. habe die sexuelle *Ausbeutung bei fast allen Betroffenen zu einem schweren physischen und psychischen Trauma geführt, sagt Opferberaterin Lina Rasheed. Vor dem Regionalgericht in Biel erzählten auch die Anwältinnen der Opfer von Panikattacken, Schlafstörungen und Albträumen, von Hautausschlägen, Drogensucht, Suizidgedanken oder sogar Suizidversuchen ihrer Mandantinnen. Es gebe Betroffene, die sich in der Hoffnung auf ein neues Leben Gesichtsoperationen unterzogen hätten. Die Angst vor Repressalien und die Scham seien riesig.
Laut Staatsanwältin Annatina Schultz war zwar einem Teil der Frauen und Transmenschen bewusst, wie sie in der Schweiz ihr Geld verdienen würden. Und dass sie Schulden abzuarbeiten hatten. Nicht informiert waren sie hingegen über die konkreten Arbeits- und Lebensbedingungen. Das führte den Gerichtspräsidenten im Juli 2018 zur Aussage: «In solch ein menschenverachtendes und ausbeuterisches System kann man gar nicht aus freien Stücken *einwilligen.»
«Nicht alle Schicksale sind gleich.»Verteidiger Philipp Kunz
Eine Alternative zur Prostitution gab es für die Betroffenen laut Anklage nicht. Sie lebten in völliger Isolation und Abhängigkeit, ohne Sprach- und Ortskenntnisse. Der in der thailändischen Kultur tief verankerte Respekt vor *älteren Personen trug zusätzlich zum Gehorsam bei. Auch war die Kontrolle engmaschig: War P. P. zu Hause in Thailand, fragte sie regelmässig per Chat nach.
Verteidiger Philipp Kunz bestritt an der Hauptverhandlung nicht, dass seine Mandantin die desolate wirtschaftliche Lage der Prostituierten ausgenutzt habe. «Die Schicksale gehen einem nahe», sagte er. «Doch nicht alle Schicksale sind gleich.» Unter den vermeintlichen Opfern seien auch solche, die sich freiwillig prostituiert hätten.
Den Straftatbestand des Menschenhandels sah Kunz nur in 13 Fällen gegeben. Diese Fälle werden nächste Woche nicht mehr neu beurteilt, P. P. hat sie *akzeptiert, sie sind inzwischen rechtskräftig geworden. «Das zeigt, dass meine Mandantin teilweise einsichtig ist», sagt Kunz. «Die Geschehnisse sind ja eigentlich unumstritten. Die Fragen sind vielmehr: War es wirklich Menschenhandel? Und wie hoch soll sie dafür bestraft werden?»
P. P. selbst sagte in ihrem Schlusswort, sie empfinde Bedauern für die Fehler, die sie gemacht habe. Das Regionalgericht Berner Jura-Seeland nahm ihr die Reue nicht ab. Sie habe das Ausmass und die Intensität der sexuellen Ausbeutung nie eingestanden, geschweige denn bereut, sagte der Präsident. Jetzt muss das Berner Obergericht über den Fall beraten. Das Urteil erfolgt voraussichtlich am 6. März